Warum die Schweizer Gastronomie jetzt Haltung zeigen muss

Der neue Druck am Kartenterminal

In der Schweiz werden jährlich über 1 Milliarde Franken an Trinkgeld gegeben – direkt, persönlich, bar. Doch nun will der Bund im Rahmen der AHV-Reform auch digital erhaltenes Trinkgeld offiziell erfassen und versteuern. Was auf den ersten Blick nach Fairness klingt, ist in Wahrheit eine stille Entwertung eines kulturellen Zeichens: der persönlichen Wertschätzung.


Der neue Druck am Kartenterminal


Immer mehr Gastronomiebetriebe – insbesondere im Take-away-Bereich – setzen heute auf digitale Trinkgeldaufforderungen am Zahlungsterminal. Gäste wählen zwischen 5, 10 oder 15 Prozent – teils unter den Blicken des Personals, obwohl sie weder bedient wurden noch Serviceleistungen erhalten haben. Für viele Konsument:innen ist das eine unangenehme Drucksituation.


Laut einer aktuellen Studie der ZHAW lehnen 62?% der Befragten diese Form der digitalen Trinkgeld-Aufforderung ab. Und doch setzen immer mehr Betriebe auf genau dieses System – weil Trinkgeld bei Kartenzahlung sonst oft ganz ausbleibt.


Aus Geste wird System


Trinkgeld ist mehr als ein Geldbetrag. Es ist ein „Danke“, das spontan, menschlich und freiwillig gegeben wird. Wird diese Geste formalisiert und digitalisiert, kippt sie in Richtung Erwartung. Was gut gemeint ist, wird zur Routine. Was persönlich war, wird zur Menüwahl.


Gerade in einem Umfeld, in dem die Gastronomie um Vertrauen, Gäste und Personal ringt, ist das heikel. Denn Vertrauen lässt sich nicht digitalisieren. Es braucht Nähe, Augenhöhe und ehrliche Kommunikation.



Aus Sicht der Betriebe – und des Personals


Natürlich ist der Wunsch nachvollziehbar: Wer mit tiefer Entlöhnung in einem harten Arbeitsumfeld kämpft, freut sich über jede Form von Trinkgeld. Einige Betriebe berichten seit Einführung der Prozentanzeige am Terminal von einem monatlichen Plus von bis zu 150 Franken pro Mitarbeitendem – kein unwesentlicher Betrag.


Aber: Trinkgeld darf nicht zum Ersatz für faire Löhne werden. Und es darf auch nicht die Verantwortung der Arbeitgeber auf die Gäste verlagern.


Empfehlungen aus der Praxis


Für Gastronom:innen empfiehlt es sich, Transparenz zu schaffen:
– Wie wird das digitale Trinkgeld verteilt?
– Kommt es vollständig beim Personal an?
– Wird es als freiwillige Geste verstanden – oder als stiller Aufpreis?


Für Gäste gilt: Entscheiden Sie frei – aber entscheiden Sie bewusst. Trinkgeld soll ein Zeichen der Anerkennung bleiben, nicht eine systembedingte Pflicht.


Fazit: Mehr Haltung, weniger Automatismus


Die Digitalisierung verändert vieles – aber nicht alles. Trinkgeld gehört in die Hände der Menschen, nicht in die Algorithmen der Terminals. Wenn wir möchten, dass Gastronomie menschlich, lebendig und persönlich bleibt, sollten wir genau hinschauen, wo Automatisierung endet – und Verantwortung beginnt.




Autor: Daniel Marbot – Generalplaner & Gastrofachplaner, Inhaber GEMASY GmbH
Planung, Beratung und Konzepte für funktionierende Küchen und gelebte Gastlichkeit.

 

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